Insgesamt 1,5 Milliarden Mal soll die Social-Video-App Tiktok bis zum November des vergangenen Jahres Schätzungen zufolge heruntergeladen worden sein. Wenig verwunderlich also, dass sich derzeit viele Content Creator und Marketingverantwortliche die Frage stellen, wie sie von der steigenden Beliebtheit der Plattform profitieren und die dort entstehende enorme Reichweite anzapfen können. Einige von ihnen haben offensichtlich mittlerweile immer besser verstanden, wie der Algorithmus der Plattform funktioniert und steigern nun mit einem Trick ihre Abrufzahlen. OMR dokumentiert die Methode und zeigt Beispiele.
22,5 Millionen Mal ist die Clip mit den Filzstiften bislang angesehen worden (bearbeiteter Screenshot)
Das Video ist nur wenige Sekunden lang: Zu sehen ist, wie eine Hand fünf Filzstifte unterschiedlicher Farbe neben einen aus einem Wasserhahn rinnenden Strahl hält. Der Clip ist versehen mit dem Begleittext „OMG?? Did you expect that?“ Im Hintergrund ist ein Orgelsound zu hören, der durch sein langsames chromatisches Aufsteigen die Erwartungen der Zuschauer weiter kitzelt. Doch auch nach mehrmaligen Sehen des Kurzvideos passiert weiter: nichts. Die Hand bewegt sich kaum, und es geschieht auch nichts Überraschendes oder Beeindruckendes.
Achtstellige View-Zahlen mit Sinnlos-Videos
„Wasserverschwendung“ lautet einer der meist-gelikten Kommentare zu dem Video. Ein anderer Nutzer schreibt „Sehr unbefriedigend“. Trotzdem hat das Video, das am 6. November auf Tiktok hochgeladen wurde, bislang 22,9 Millionen Views angesammelt (einsehbar sind diese Abrufzahlen nur in der App-Version von Tiktok).
@mariam_sitchinavaOMG?? Did you expect that? ? #foryoupage♬ 原聲 – 林均均?
Ein weiteres Beispiel: Die Zuschauer sehen eine Hand, deren Daumen offenbar in die obere Öffnung eines goldfarben angesprayten Granatapfels drückt. User „thenewmask“ hat seinen Clip mit dem selben Orgelmotiv wie das Farbstift-Video aus dem ersten Beispiel unterlegt und mit dem Text „Did you expecting this?“ (sic!) versehen. Auch hier geschieht im Video überhaupt nichts. Der am 8. November hochgeladene Clip hat bislang 35,5 Millionen Views angesammelt.
@thenewmaskDid you expecting to this?! ??#fürdich #dlaciebie #dlaciebie♬ 原聲 – 林均均?
Mit einem Video so viele Views wie die Top-Tiktok-Influencer
35,5 Millionen Views für ein sinnloses Video mit einem Deko-Artikel (bearbeiteter Screenshot)
Auch wenn Tiktok Mehrfachabrufe der in Schleife abgespielten Clips jeweils einzeln als Views zählt, sind die Abrufzahlen der beiden Videos zumindest für Tiktok-Verhältnisse durchaus beeindruckend. Sechs von zehn der laut Plattformbetreiber viralsten US-Videos auf Tiktok aus dem vergangenen Jahr (hier im OMR Ranking) hatten weniger Views als die beiden rätselhaften Clips.
Andere, nach ähnlichem Muster aufgebaute Tiktok-Videos haben in den vergangenen Wochen zwar keine acht-, aber doch immerhin siebenstellige Abrufzahlen generieren können. Eine schweizerische Nutzerin hat für einen Clip ihr Gesicht gefilmt, dabei die Augenpartie mit einem länglichen Gegenstand verdeckt und darüber die Caption „Meine Eltern haben gesagt ich kann durch meine Augen berühmt werden ?“ eingefügt. Unter dem Video die Frage: „Was meinst Du?“ Als Zuschauer erwartet man, dass die Protagonistin irgendwann ihre Augen enthüllt – doch das tut sie nicht. Bislang hat das am 6. Dezember hochgeladene Video 2,3 Millionen Views angesammelt.
@kabee.chWas meinst du? ??#schweiz #deutsch #fürdichseite♬ Obsessed – Mariah Carey
„Schaut Ihr auch in die Kommentare für eine Auflösung?“
Weitere Beispiele: Ein Nutzer hält einen rosa und einen blau eingefärbten Pinsel über ein Wasserglas (Begleittext: „OMG? Seht ihr was ich sehe ???“), ohne diese einzutauchen. Hochgeladen am 25. November, bislang 1,3 Millionen Views. „Stylishqueen45“ zeigt in einem Video, wie sie die Rückseite ihres iPhone mit einer Paste aus einer Tube (Zahnpasta? Kosmetika?) einreibt („OMG my phone????“). Der Grund? Nicht zu erkennen. Nach einem Monat verzeichnet das am 15. Dezember hochgeladene Video 2,4 Million Abrufe.
@stylishqueen45OMG my phone????. #iphonexsmax#iphone_xs_max #fy #duet??? #stylischqueen?? #tiktokaustria
In einem weiteren Video zeigt eine Tiktok-Nutzerin mit einem Stift auf einem Blatt Papier dem Anschein nach, wie man eine besondere Zeichnung anfertigen kann. In der letzten Sekunde vor dem Ende des Videos (und vor der Auflösung, was sie da eigentlich zeichnet) erschrickt sie sich laut und deutlich. Doch selbst nach mehrmaligem Abrufen des Videos, ist nicht erkennbar, warum sie sich so erschrocken haben könnte. Der meist gelikte Nutzerkommentar zum Video: „Anyone else confused and looking at the comments for answers?“ Trotzdem hat der am 13. November hochgeladene Clip bislang 7,2 Millionen Views angesammelt.
@itsxxalliexoops #foryou♬ original sound – itsxxalliex
Neues Video zur selben Tonspur – zack, Millionen von Views
Da es auf Tiktok möglich ist, zur Tonspur eines bereits hochgeladenen Videos einen neuen Clips zu drehen, hat eine weitere Nutzerin den Clip einfach mit dem original Ton nachgedreht und am 22. November auf ihren Tiktok-Account hochgeladen. Sie erzielt damit sogar mehr Abrufe als das Original-Video: 8,1 Millionen Views.
Ein weiteres, ähnlich rätselhaftes Video: Ein junger Nutzer filmt aus seiner Haustür heraus den dämmernden Himmel ab und fragt im Off „Mama, was ist das?“ Die antwortet ihm wenig später: „Heilige Scheiße, was zur Hölle ist das?“ Der Nutzer läuft auf die Straße und hält die Handykamera weiter in Richtung Horizont, an dem einige Lichter zu sehen sind, die aber auch durchaus menschlichen Ursprungs sein könnten. Der Grund seiner Verunsicherung wird nicht aufgelöst. Das Video hat 8,6 Millionen Views; ein anderes mit derselben Tonspur 1,7 Millionen.
@kiyohshiDONT LET THIS GO IGNORED #foryourpage #fyp #viral♬ Apocalyptic ASMR – kiyohshi
Heiliger Gral „For You“-Page-Platzierung
Wer wissen möchte, warum diese Videos auf solch hohe Aufrufzahlen kommen, muss zunächst einmal verstehen, wie Tiktok genau funktioniert. Wer die App herunterlädt und öffnet, landet sofort (und auch bei jedem weiteren Öffnen) auf der „For You“-Page von Tiktok. Dort werden den Nutzern auf der Plattform erfolgreiche Videos abgespielt. Die Nutzer müssen dafür den Erstellern dieser Videos nicht folgen. Um die Videos jener Tiktoker, denen die Nutzer folgen, sehen zu können, müssen diese den „Following“-Feed antippen.
Die Videos werden in Schleife abgespielt; wenn die Nutzer hochwischen, können sie das nächste Video sehen. Mit der Zeit wird die „For You“-Page für jeden Nutzer immer stärker personalisiert: Tiktoks Algorithmus spielt den Nutzern dann bald auf Basis ihres Verhaltens (welche Videos schauen sie wie lange und wie häufig an, kommentieren oder liken sie, und falls ja, bei welchen Videos?) entsprechende Clips auf ihrer „For You“-Seite aus.
Wie funktioniert Tiktoks Algorithmus?
Der Algorithmus bestimmt auch darüber, welche Videos auf Tiktok erfolgreich sind, und welche kaum ausgespielt werden. Weil die „For You“-Page die stärkstfrequentierte Seite von Tiktok ist, lagert hier für jeden Tiktok-Content-Creator der wahre Reichweitenschatz: Wem es gelingt, sein Video auf der „For You“-Page zu platzieren, dem winken hohe Abrufzahlen. Viele versehen deswegen ihre Videos mit Hashtags wie #foryoupage #foryou oder #fyp, obwohl angezweifelt werden darf, dass dies den Algorithmus beeinflusst.
In der Tik-Tok-Creator-Community kursieren wilde Theorien darüber, wie Tiktoks Algorithmus im Allgemeinem und der der For-You-Page im Speziellen funktioniert (einige davon hat Vice an dieser Stelle dokumentiert). Viele Tiktoker gehen davon aus, dass ein neues Video erst einer kleinen Testgruppe von Nutzern ausgespielt wird und auf Basis von deren Reaktion dann ein Score erstellt wird, von dem es abhängt, wie viele weitere Nutzer das Video zu sehen bekommen. Einige der Content Creator glauben, dass die Zahl der Video-Abrufe und in noch stärkerem Maße die Zahl der Mehrfachabrufe die Faktoren sind, die die organische Reichweite eines Videos auf Tiktok am stärksten beeinflussen.
@millionairedaddyTikTok Algorithm Explained. #tiktok #fyp #foryou #entrepreneur #algorithm♬ original sound – millionairedaddy
Nicht erkennbare Loops pushen die organische Reichweite
Die hohen Abrufzahlen der rätselhaften Videos ohne Auflösung ist zumindest ein Indiz dafür, dass diese Vermutung stimmen könne. Offensichtlich haben die Macher der oben beschriebenen Clips darauf abgezielt, Mehrfachabrufe zu generieren und damit auf die „For You“-Page zu gelangen. Denn wenn man einen Tiktok-Clip beim ersten Mal nicht verstanden hat , oder davon ausgeht, etwas übersehen zu haben, dann wartet man in der Regel einfach, bis das Video wieder von vorne anfängt, um dann erneut zu versuchen, den Sinn des Clips zu ergründen. Oder man liest die Kommentare durch, in der Hoffnung, dort auf eine Erklärung zu stoßen – ebenfalls eine Form von Engagement.
Manche der bauernschlauen Tiktok-Content-Creator konstruieren ihr Video dabei offensichtlich gezielt so, dass der Nutzer kaum erkennen kann, wann eine Durchlauf zu Ende ist und wann das Video erneut von vorne anfängt. Das Ziel: Der Nutzer merkt gar nicht, dass er das Video bereits mehrfach ganz angesehen hat.
Und was bringt das?
Am Ende bleibt jedoch Frage, was die mit dieser Methode generierte Reichweite für die Tiktok-Content-Creator wirklich wert ist. Denn mit einem Video Millionen-Abrufe zu verzeichnen, bedeutet auf Tiktok nicht, dass man mit den folgenden Videos automatisch dieselbe Reichweite generieren kann. Nur wenige dürften mit solchen für die Nutzer ja eigentlich enttäuschenden Clips Follower generieren; zudem sind Abonnenten auf Tiktok noch weniger wert als auf anderen Social-Plattformen. Entscheidend bleibt bei jedem einzelnen Video, ob dieses vor dem Algorithmus der Plattform Wohlwollen findet. Nicht selten stagnieren andere Videos jener Nutzer, die einmal mit dem „Mehrfach-Views“-Hack hohe Abrufzahlen generieren konnten, im drei bis vierstelligen Bereich.
Einige Nutzer lenken deswegen für die „Auflösung“ ihrer Videos auf Instagram um– vermutlich, weil sie dort vergleichsweise verlässlicher Reichweite generieren können. Tiktoker Tri Finn hat beispielsweise am 10. Dezember den ersten Teil eines „Prank“-Videos auf Tiktok gepostet, das bislang beachtliche 83 Millionen Views angesammelt hat. „Ending on IG: trifinn“, heißt es in der Video-Beschreibung. Die Zahl seiner Instagram-Follower ist danach innerhalb weniger Tage von 27.000 auf 35.000 angestiegen. Content Creator Joe Albanese hat mit derselben Methode (mehrfach angewendet) sogar 600.000 Instagram-Follower innerhalb von zwei Wochen gewonnen.
Author: Geoffrey Gordon
Last Updated: 1703749682
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